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#TBT 009 Ein beeindruckendes Museum

Vor fast auf den Tag genau einem Jahr war ich in Tartu. Gut, das ist - zumindest in prä-Corona-Zeiten für ein Wochenende im Herbst nichts ungewöhnliches. Aber endlich hatte ich genug freie Zeit übrig, um das Estnische Nationalmuseum zu besuchen. Nach einigen sehr intensiven Tagen - und sehr kurzen Nächten - war ich schon in einer besonderen Stimmung, als ich den Neubau am Rande der Stadt betrat. Schon nach wenigen Schritten zog ich mein Mobiltelefon heraus und begann zu schreiben. Schnell schickte ich eine Nachricht mit ein, zwei Fragmenten an nordisch.info, ob Interesse bestünde. Noch in der gleichen Nacht - mittlerweile in Riga angekommen - saß ich mit einem letzten Tartuer Bier am Wohnzimmercouchtisch und schrieb den Artikel. Über ein Museum wie kein anderes.

(Das ist übrigens nicht der erste Artikel von mir auf nordisch.info, aber schaut Euch selbst einmal dort um!)




Wenn eine Nation ihre Geschichte erzählen will, womit fängt sie an? Die Esten beginnen mit dem Satelliten „ESTCUBE-1“ und dem Tigersprungprogramm, das sie seit 1996 zu den Vorreitern der Digitalisierung macht. Gleich auf den ersten Metern der Dauerausstellung des ERM zeigt sich, was die estnische Identität prägt: Innovation, Zukunftszugewandheit und ein starkes Bewusstsein um den Wert der Freiheit. Und gleichzeitig niemals die eigenen, uralten kulturellen Wurzeln vergessen. Für diese steht der massive Opferstein, der kurz hinter dem Eingang zwischen Laptop, Satellit und Erinnerungen an die Unabhängigkeitsbewegung der 1980er ruht. Und auf dem die Besucher heute immer wieder Münzen hinterlassen.


So wandert man durch die langgezogene Halle zwischen runden, turmartigen Vitrinen mit arrangierten Objekten, Bildschirmen mit Videosequenzen, flachen Monitoren mit eleganten und faszinierenden Animationen. Jede Station einem bestimmten Punkt der Jahrtausende alten Geschichte Estlands gewidmet. Scheinbar willkürlich, weil thematisch statt chronologisch angeordnet: Ein Monitor mit Animationen zur Mobilität (tägliche Pendler nach Tallinn, landesweite Anreisen zum Sängerfest oder einem Robbie Williams Konzert) neben einer Vitrine mit steinzeitlichen Artefakten neben einer zum Thema „Schuhe als Mangelware in der Sowjetzeit“.


Entlang der langen Halle widmen sich Seitenräume Themen wie „Volk und Staat“, „Städte in der Stadt“, „Was wir kochen“ oder „Leben auf dem Land“. „Parallele Welten“ erzählt beispielsweise vom Leben im Kalten Krieg: Geschichten von Liebe und Freundschaft, Freude und Kummer, Entscheidungen und Fügungen.


Das Estnische Nationalmuseum bricht mit Konventionen. Die moderne Architektur überrascht dabei am wenigsten. Schon der Titel der Dauerausstellung „Begegnungen“ verrät, dass es nicht darum geht, entlang einer Chronologie eine nationale Meistererzählung zu vermitteln. Man begegnet Estland und seinen Bewohnern der verschiedenen Jahrhunderte, wie man eben Menschen kennenlernt.


Die Ausstellung ist voller moderner Technik, aber mit einer sehr estnischen Selbstverständlichkeit und Understatement. Es gibt eben keine normalen Texttafeln mehr, nur noch digitale Anzeigen. Diese funktionieren wie E-Book-Reader, und sobald man seine Eintrittskarte vor die Anzeige hält, wechselt die Anzeige in die Sprache des Besuchers. RFID-Technologie sei Dank. Ebenso unaufgeregt und dezent sind alle digitalen Visualisierungen, die auf den vielen Monitoren zu sehen sind.



Im Untergeschoss befindet sich eine zweite Ausstellung „Echo des Urals“. Diese ist all den finno-ugrischen Völkern gewidmet, die – anders als die Esten, Finnen oder Ungarn – über keinen eigenen Staat verfügen. Noch vor der Treppe visualisieren große Projektionen nicht nur ihre Siedlungsgebiete, sondern auch die Verwandtschaft der Sprachen an Hand wechselnder Worte.


Unten folgt man einer Art Fluss durch mit uralten Symbolen verzierte Gänge von einem Raum zum nächsten. So begegnet man nach und nach den kulturellen „Vettern“ der Esten. In zurückhaltend, aber effektvoll gestalteten Räumen gewinnt man Einblicke in deren traditionelle Lebensweisen, untermalt mit atmosphärischen Geräuschen: Gesang und Schafblöken an dem Haus der Komi. Wellenplätschern und Kranichgeschrei bei den livischen Fischern. Heilender Wind und Rentierblöken bei den Sami. So ist – wie in der Hauptausstellung – immer eine Geräuschkulisse gegeben, doch nie dröhnender Lärm, da niemals alles zugleich ertönt.



Ist die Hauptausstellung im Erdgeschoss hell, modern, so gelingt es den Museumsmachern, der Ausstellung zu den finno-ugrischen Völkern trotz aller modernen Technik durch geschickten Einsatz von Projektionen, Beleuchtung und Lautsprechern eine mystisch-magische Aura zu geben, die schon beim einfachen Durchschlendern eine Ahnung von den Weiten der Tundra und Sibiriens und den alten Sagen ihrer Bewohner spüren lassen.


Das estnische Nationalmuseum liegt am Stadtrand von Tartu. Andere Staaten hätten es ganz pathosgeladen an einem besonders geschichtsträchtigen Ort errichtet. Hier, am Nordrand der alten Universitätsstadt, ist nur der älteste – und längst aufgelassene – Luftwaffenstützpunkt des Landes auf der anderen Straßenseite irgendwie historisch. Man kann gut per Auto oder Bus dorthin gelangen. Oder die halbe Stunde vom Rathausplatz zu Fuß gehen. Und ein Stück ganz normales estnisches Wohnviertel erleben. Und – zumindest im Herbst – ungezählte Birken, die selbst bei grauem Himmel noch golden leuchten.


„Freude für den ganzen Tag“ verspricht der Prospekt des ERM. Und man sollte sich die Zeit nehmen. Für eine einmalige Entdeckungsreise. Für ganz viele spannende Begegnungen mit Estland und den Esten. Für magische Momente in der Welt der finno-ugrischen Völkerschaften. Und für ein unglaubliches Erlebnis, dass „Museum“ so völlig anders sein kann, als man es gewohnt ist.


Zuerst veröffentlich auf nordisch.info am 23. Oktober 2019

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